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Der vergessene Gesandte: Alois Michel und die Entstehung der Bundesverfassung

Vor 175 Jahren schrieb der junge Obwaldner Alois Michel an der Bundesverfassung mit. Sein privates Protokoll und seine Berichte aus den Sitzungen der Bundesrevisionskommission geben Einblick in die zähen Aushandlungen, die die Entstehung des modernen Bundesstaates begleiteten - und zeichnen das Bild eines Mannes, der in Bern konsequent die Anliegen Obwaldens vertrat, in Obwalden dennoch als Verräter beschimpft wurde und dessen Rolle als Gesandter schliesslich in Vergessenheit geriet.

Im Februar 1848 nahmen Vertreter der Kantone in Bern eine Revision des Bundes in Angriff. Die Umstände waren schwierig: Der Sonderbundskrieg, in dem sich die liberal-radikalen Kantone der Eidgenossenschaft und die durch Frankreich, Preussen und Österreich unterstützten katholisch-konservativen Sonderbundkantone (Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis) bekämpft hatten, hatte nur wenige Monate zuvor mit der Niederlage des Sonderbundes geendet. Die ehemaligen Sonderbundskantone standen einer Bundesrevision deshalb äusserst skeptisch gegenüber.

Jüngstes Mitglied der Verfassungsrevisionskommission war Alois Michel (1816-1872), der Vertreter Obwaldens. Der Sohn eines Kernser Käsehändlers hatte sich nach Studien in Bellinzona, Freiburg und Neuenburg wieder in Obwalden niedergelassen, war 1843 zum Landesfähndrich und zwei Jahre später zum Landesbauherrn ernannt worden. Obwohl er im Sonderbundkrieg als Hauptmann gedient hatte, zählte er innerhalb Obwaldens zu den liberaleren Kräften. Nach der Niederlage des Sonderbundes und der Absetzung des konservativen Landammanns Nikodem Spichtig rückte er deshalb in das Amt des Altlandammanns nach – und wurde kurz darauf in die Bundesrevisionskommission gewählt.

Alois Michel
Abb. 1: Alois Michel als Regierungsrat (Portrait im Regierungsratssaal, Rathaus Sarnen, Inv.-Nr. 750).

 

Berichte aus Bern

Als Vertreter Obwaldens hatte Michel innerhalb der Kommission einen schwierigen Spagat zu meistern: Er sollte zwar die Interessen des Kantons vertreten, weil man aber der Bundesrevision in Obwalden grundsätzlich skeptisch gegenüberstand, war er zunächst mit der Weisung entsandt worden, nicht mitzustimmen, sondern nur zu beobachten und zu berichten.

Es ist wohl auch dieser Instruktion zu verdanken, dass im Staatsarchiv Obwalden zahlreiche Quellen aus der Hand Michels überliefert sind, die uns spannende Einblicke in die Arbeit der Kommission aus der Sicht des Obwaldner Gesandten bieten: Während den Sitzungen führte Michel nämlich ein privates Protokoll, in dem er sich stichwortartig die Voten der anderen Kommissionsmitglieder und auch die eigenen Wortmeldungen notierte und bei jeder Abstimmung die Anzahl Für- und Gegenstimmen festhielt. Da die Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden und im offiziellen Protokoll bewusst auf Namensnennungen verzichtet wurde, stellt Michels Protokoll eine wichtige Ergänzung dar. Alle paar Tage schickte er zudem ein Schreiben an den Obwaldner Landammann und Rat, in dem er die wichtigsten Diskussionspunkte und Beschlüsse zusammenfasste.

Schon in den ersten Sitzungen zeichnete sich ab, dass die Bundesrevision keine einfache Aufgabe werden würde. Denn – so Michel – "bei so vielen Mitgliedern sind die Ansichten, sowohl über den Modus, als über die Sache selbst zu zerschieden, und werden so vielseitig vertheidigt, dass am Ende der Berathungsgegenstand beinahe vergessen wird, und viel Zeit verfliesst ohne zu einem resultate zu kommen." Trotzdem blieb Michel optimistisch: "Nach einigen Sitzungen wird man sich aber wohl allseitig etwas besser verstehen." (Brief vom 21.02.1848).

Zunächst blieben die Sitzungen aber scheinbar schwierig. Michels Berichte zeugen von den zähen Verhandlungen, in denen oftmals bereits gefällte Entscheidungen wieder in Frage gestellt und trotz langer Sitzungen "sehr weniges, und nichts zusammenhangendes beschlossen wurde […] Oft ist langweilig oft unterhaltend zuzuhören. Ich fürchte selbst Sie mit solchen Berichten zu langweilen" (Brief vom 23.02.1848).

Aber auch Konfliktpotential gab es zur Genüge. Besonders heftig wurde über die Frage gestritten, ob die Kantone auf Bundesebene weiterhin durch die gleiche Anzahl Repräsentanten vertreten sein sollten oder ob sich diese zukünftig nach der Grösse der Bevölkerung richten sollte. Laut Michels Bericht scheiterte daran um ein Haar die gesamte Bundesrevision: Der Präsident Ochsenbein (Bern) drohte die Arbeit der Kommission zu unterbrechen und geriet darüber mit Munzinger (Solothurn) "in grossen heftigen Kampf"; am Ende des Tages "ging die Kommission vielseitig ziemlich erbittert auseinander" (Brief vom 08.03.1848).

Protokoll und Berichte Alois Michel
Abb. 2: Alois Michels privates Protokoll und seine Berichte aus der Bundesrevisionskommission (C.03.01.152)

 

Michel in der Kommission

Michels Berichte dokumentieren aber nicht nur die Stimmungslage innerhalb der Kommission, sondern geben auch Einblick in seine eigenen Wortmeldungen und – nachdem ihm doch noch die Stimmerlaubnis erteilt worden war – sein Abstimmungsverhalten. Während er in Obwalden als Liberaler galt, gehörte er in der Verfassungsrevisionskommission zu den konservativeren Mitgliedern und stellte sich wohl auch in den Berichten an die Obwaldner Regierung bewusst als konsequenter Vertreter katholisch-konservativer Anliegen dar: Statt einer neuen Bundesverfassung sprach er sich etwa für eine Teilrevision aus und bedauerte, dass die Kommission wegen der Ereignisse im Ausland – gemeint waren wohl die zahlreichen europäischen Revolutionsbewegungen – meine, auch die "neueste Mode" mitmachen zu müssen (Brief vom 21.03.1848). Auch für die Klöster setzte er sich ein, indem er verlangte, dass deren Rechte durch die neue Verfassung garantiert werden und damit auch in protestantischen Kantonen gelten sollten – ansonsten drohe wieder "Religionsgefahr". Auch in diesem Punkt unterlag Michel: "Es scheint […] ich habe den Antrag zu wenig begründet, oder zu leise gestellt, weil blos die nächsten 2 Mitglieder durch Hand-Mehr mir beistimmten" (Brief vom 26.02.1848).

Besonders vehement stellte sich Michel aber gegen jegliche Änderung der Repräsentationsverhältnisse, weil das bevölkerungsarme Obwalden dadurch gegenüber den grösseren Kantonen an Gewicht zu verlieren drohte. Als er auch damit in der Kommission unterlag, gab er lautstark zu Protokoll, dass er sich gegen diesen Beschluss verwahre – "damit", so erklärt er in seinem Brief an Landammann und Rat, "nicht einst noch selbst meine Nachkommen mit dem Vorwurfe verfolgt werden, ich habe an der Vorberathung eines solchen Beschlusses stillschweigend Antheil genommen." Als schliesslich ein Kompromiss zwischen den Lagern gefunden wurde – nämlich das Zweikammersystem nach amerikanischem Vorbild – pries Michel dieses in seinem Brief an den Landammann hingegen als kleinstes Übel an: "Ich beeile mich Ihnen in Eile vor Abgang der Post zu berichten, dass nach 2tägigen heftigen Debatten, wie ich finde, von allen Anträgen und Beschlüssen für die kleinen Kantone das mindst schädliche System zu Stande kam, wenn doch abgeändert werden wollte. Das amerikanische 2 Kammersystem erhielt nämlich 17 Stimmen." (Brief vom 23.03.1848) Allerdings verschwieg Michel, dass er selbst als einziger Vertreter der Innerschweiz dagegen gestimmt hatte.

 

Tumult an der Landsgemeinde

Mit der Einigung auf einen Verfassungsentwurf war es aber nicht getan: Nun mussten die Kantone darüber abstimmen. Obwohl Michel in der Bundesrevisionskommission mit vielen seiner Anliegen gescheitert war, anerkannte der einfache Landrat, dass der Verfassungsentwurf Obwalden auch einige Vorteile brachte. Einig war man sich aber nicht: Während der einfache Landrat sich für die Annahme der Bundesverfassung aussprach, stellte sich der dreifache Rat dagegen. Am 27. August 1848 stimmte schliesslich die Obwaldner Landsgemeinde über die neue Bundesverfassung ab. Michel hielt eine Rede, in der er die neue Verfassung verteidigte – und wurde prompt als "Vaterlandsverräther" beschimpft. Auch zu Tätlichkeiten und Schlägereien kam es: Laut einer Beschwerde der Freisinnigen Obwaldens wurden die Befürworter der Verfassung durch "barbarisches Heulen und Prügeln" ihres Stimmrechtes beraubt, einige seien sogar das Bord des Landenbergs hinuntergestossen worden. Die Landesgemeinde entschied schliesslich mit grosser Mehrheit, die Verfassung abzulehnen – allerdings mit dem entscheidenden Zusatz, sich bei einer Annahme der Verfassung durch die Mehrheit der Kantone dem "unausweichlichen Drang der Umstände" zu beugen (RRP.0011, 02.09.1848, S. 611).

Am 12. September war es dann soweit: Die Tagsatzung beschloss offiziell die Einführung der neuen Bundesverfassung. Während seine Tagsatzungskollegen "beim Mittagessen im Frauenbrunnen das Freudenfest des heutigen Beschlusses" feierten, setzte sich Michel an seinen Schreibtisch, um der Obwaldner Regierung ein weiteres Mal Bericht zu erstatten – und gleichzeitig nachdrücklich um die Erlaubnis zu bitten, sich im Namen Obwaldens und gemäss dem "nachträglichen Landsgemeindebeschlusse" zum Bund zu bekennen: "Zum wahren Wohl Obwaldens muss ich Sie aber dringend ersuchen nächsten Samstag mir [diese Instruktion] zu ertheilen und unversäumt zu übersenden, damit noch vor Schluss der Tagsatzung ich sie abgeben könne. Es wird günstig auf die Eidgenossenschaft wirken." Auch die innerkantonalen Gräben, die die Landsgemeinde offenbart hatte, hatte Michel im Blick: "Namentlich deswegen muss ich es Ihnen aber auch sehr empfehlen, damit dann in Obwalden dieser Gegenstand als abgethan betrachtet werde, desswegen die Hetzereien und Nekereien allseitig verschwinden, und an den Platz der Zwietracht wieder Eintracht eintrette, wofür ich diessfalls nach meiner Heimkunft auch das Meinige thun werde."

Tatsächlich war man in Obwalden um eine Beruhigung der Situation bemüht. Direkt nach der Landsgemeinde hatte Michel gedroht, sich aus dem Rat – in dem auch Verwandte seiner Schmäher sassen – und aus der Tagsatzung zurückzuziehen, wenn ihm wegen der erlittenen Beleidigungen nicht Genugtuung verschafft werde. Der Rat reagierte darauf – und auf die Beschwerde der Freisinnigen – mit einer offiziellen Antwort, in der er die Ausschreitungen an der Landsgemeinde bedauerte, Michels Tätigkeit als Gesandter lobte und versprach, die Beleidigungen zu untersuchen und Massregeln zu treffen, um zukünftig Eskalationen an der Landsgemeinde zu verhindern. Ausserdem wurden alle Ratsmitglieder ermahnt, sich in ihrem jeweiligen Umfeld um Beruhigung zu bemühen.

 

Der vergessene Gesandte

Es ist wohl auch diesen Vermittlungsbemühungen zu verdanken, dass Michel nach 1848 seine politische Karriere fortsetzen konnte: 1850 wurde er in den ersten Obwaldner Regierungsrat gewählt, wo er unter anderem den Bau der Brünigpassstrasse und des Spitals begleitete; sechs Mal amtete er als regierender Landammann. Als Michel 1872 starb, wurde er in einem Nachruf im Obwaldner Volksfreund als "tüchtiger, unternehmender, gemeinnütziger Mann" beschrieben, "der des Landes Wohl, besonders dessen ökonomische Verhältnisse immer nach Kräften beförderte und zu vervollkommnen suchte. Er war ein Mann der That und ohne Furcht. Ehre seinem Namen, Ruhe seiner Seele!"

Nachruf Alois Michel
Abb. 3: Nachruf auf Alois Michel im Obwaldner Volksfreund, 12.01.1872.

Michels Befürchtungen, dass seine Arbeit in der Bundesrevisionskommission sogar noch seine Nachkommen verfolgen würde, hatte sich also nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil: In seinem Nachruf wird seine Beteiligung an der Bundesverfassung mit keinem einzigen Wort erwähnt – und auch im historischen Lexikon der Schweiz fehlt sie. Die Privatprotokolle und Berichte Michels, die im Staatsarchiv Obwalden überliefert sind, geben also nicht nur Einblick in die zähen Aushandlungen, die die Entstehung der modernen Schweiz begleiteten, sondern werfen auch ein Schlaglicht auf die Arbeit eines vergessenen Obwaldner Gesandten – eines Gesandten, der in Obwalden als Liberaler galt und in Bern konservative Positionen vertrat, der in der Revisionskommission in fast allen Abstimmungen unterlag und trotzdem den Wert der neuen Verfassung anerkannte, und der schliesslich mit daran beteiligt war, dass die Einführung der Bundesverfassung in Obwalden friedlich verlief.

 

Zum 175. Jubiläum der Schweizerischen Bundesverfassung wurden die Protokolle und Berichte Michels durch das Staatsarchiv Obwalden digitalisiert und von iurisprudentia im Rahmen des Projektes EditionBundesverfassung mit einem automatisiert erstellten Transkript versehen. Die Digitalisate inklusive Volltext sind nun auf www.iurisprudentia.ch verfügbar:

 

Quellen (Auswahl):

StAOW C.03.01.152: Berichte von hiesigen Gesandten (von Tagsatzungen und sonstigen Gesandtschaften). 

Nachruf auf Alois Michel. In: Obwaldner Volksfreund, 12. Januar 1872.

 

Literatur zum Thema:

Holenstein, Rolf: Stunde Null. Die Neuerfindung der Schweiz 1848. Die Privatprotokolle und Geheimberichte der Erfinder. Basel 2019.

von Flüe, Niklaus: Obwalden im Kampf gegen die Freischaren. In: Geschichtsfreund 134 (1981), S. 193–211.

von Flüe, Niklaus: Vom Bundesvertrag zur Bundesverfassung. Obwalden im Kampf gegen die Freischarenzüge und für den Sonderbund. In: Obwaldner Geschichtsblätter 19 (1990), S. 9–205.

von Flüe, Niklaus: Obwalden 1848-1888. Die Einordnung in den Bundesstaat. In: Obwaldner Geschichtsblätter 25 (2004).

von Flüe, Niklaus: Michel, Alois. In: Historisches Lexikon Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/005980/2008-11-11/.

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